Mehr Ruhe. Mehr Grün. Mehr Platz. Viele Menschen zieht es aufs Land. Doch so schön es dort ist: Manchmal soll es auch ein bisschen Stadt sein – und da muss man erstmal hinkommen. „Ohne Auto? Keine Chance!“ heißt es dann oft bedauernd. In vielen ländlich gelegenen Neubaugebieten steht daher sogar ein Zweitauto im Carport.
Mit innovativen Projekten sorgen engagierte Bürger*innen, Gemeindeverwaltungen und Verkehrsanbieter dafür, dass das Landleben ohne eigenes Auto mobiler wird. Unterstützt werden sie dabei seit Sommer 2021 vom mobiliteam by NAH.SH, das im Auftrag der schleswig-holsteinischen Landesregierung Kommunen rund um nachhaltige Mobilität berät. Unsere los!-Reporterin hat sich einige Ideen angeschaut und festgestellt: Auf dem Land bewegt sich was!
„Das Smarte DorfSHUTTLE spart nicht nur Zeit, sondern reduziert auch den CO₂-Ausstoß.“
Anthony Armiger II, NAH.SH-Projektleiter On-Demand-Mobilität
Wir stehen an einer Haltestelle. Irgendwo im Nirgendwo des Amts Süderbrarup. Wir, das sind vier der rund 30 Teilnehmenden der ersten On-Demand-Exkursion des mobiliteams by NAH.SH, darunter Akteur* innen aus Städten, Gemeinden, Kreisen, Ämtern und dem Tourismus. Wir wurden hier abgesetzt. Theoretisch gut gerüstet nach einigen Vorträgen im Süderbraruper Rathaus über On-Demand- Verkehrsprojekte, steigen wir an diesem Oktobernachmittag nun ganz praktisch in das Thema ein. Als Expeditionsausrüstung dienen unsere Smartphones mit der NAH.SHUTTLE-App. Wir stellen eine Fahrtanfrage, können dabei angeben, wie viele Personen wir sind, wann wir von A nach B fahren wollen und ob wir einen Rollstuhlplatz brauchen. Dann buchen wir die Fahrt. In rund zehn Minuten soll unser Smartes DorfSHUTTLE da sein – wir sind gespannt … „Die On-Demand-Mobilität ist eine Erfolgsgeschichte und eine gute Ergänzung zum ÖPNV“, hat uns der Süderbraruper Amtsvorsteher Thomas Detlefsen mit auf den Weg gegeben. Wenig später biegt die „Erfolgsgeschichte“ auch schon um die Ecke: ein elektrisch angetriebener Kleinbus im NAH.SH-Look.
Unsere Testfahrt durch das Amt Süderbrarup ist kurz und vor allem kurzweilig, gibt es doch jede Menge zu schnacken über das Thema Mobilität auf dem Land. Im Gegensatz zu einem großen Linienbus, wo sich fast jede*r einen Einzelplatz sucht, kommt hier sofort ein Gemeinschaftsgefühl auf. Zurück an unserem Ausgangspunkt im Rathaus, gibt es einen Stabwechsel: Eine weitere Gruppe bricht zu ihrem Praxistest auf. Wir verfolgen währenddessen live an einem Bildschirm, wie die Software deren Fahrtbuchungen darstellt. Ein Algorithmus berechnet die optimalen Routen und bündelt Fahrtwünsche. Außerdem sind im System zusätzliche virtuelle Haltestellen hinterlegt.
„Niemand muss mehr als rund 300 Meter zu einer Haltestelle zurücklegen. Das ist nachhaltig, denn es spart nicht nur Zeit, sondern reduziert durch die Streckenoptimierung auch den CO₂-Ausstoß“, erklärt Anthony Armiger II, Projektleiter für den Bereich On-Demand- Mobilität bei NAH.SH. Ebenso nachhaltig ist die Kooperation zwischen dem Rendsburger On-Demand- Angebot remo und dem Smarten DorfSHUTTLE: Die Projekte teilen sich den Fahrzeugpool. Während die E-Vans und Kleinbusse tagsüber im Amt Süderbrarup unterwegs sind, sind sie in der Rendsburger Region überwiegend in den Abendstunden im Einsatz.
Die beiden Bedarfsverkehrsangebote in Süderbrarup und Rendsburg sind eine digitale Weiterentwicklung der Idee des DorfSHUTTLES. Die ist nicht ganz neu, nur war der Shuttledienst bisher eben nicht „smart“ – das heißt per App –, sondern ausschließlich telefonisch zu buchen. 2019 startete ein DorfSHUTTLE im Amt Hürup, initiiert vom Kreis Schleswig-Flensburg.
Grundsätzlich ist es in Schleswig-Holstein Aufgabe der Kreise und kreisfreien Städte, den Busverkehr zu organisieren. Sie schließen Verträge mit den Verkehrsunternehmen, die dann das operative Geschäft übernehmen. Das DorfSHUTTLE verbindet die Gemeinden des Amtes Hürup und anliegende Gemeinden miteinander. Das Angebot bietet eine auf die Zugabfahrtszeiten abgestimmte Zubringerlösung zum Bahnhof in Husby und eine gute Anbindung an Lebensmittelläden, Ärzte und andere Nahversorgungspunkte in der Region. „Das bringt größere Unabhängigkeit, nicht nur für ältere Menschen“, weiß Torsten Düwel vom Fachdienst Regionalentwicklung und Energiewende des Kreises. Seit Abschluss der zweijährigen Pilotphase ist das DorfSHUTTLE fester Bestandteil des ÖPNV-Angebots. Am Steuer sitzen Mitarbeiter*innen eines lokalen Taxi-Unternehmens, das wiederum vom Verkehrsunternehmen Autokraft beauftragt wird. Der Vorteil laut Torsten Düwel: „Die Fahrer*innen kennen sich sehr gut aus und können flexibel auf Streckensperrungen und Fahrgastwünsche reagieren.“
„Wir kompensieren den Mangel an Läden und Arztpraxen vor Ort mit Mobilität.“
Werner Schweizer, Klixbüller Bürgermeister
Unsere Recherche nach weiteren Mobilitätsideen führt vom Kreis Schleswig-Flensburg weiter nach Klixbüll, einer Gemeinde im Kreis Nordfriesland mit rund 1.100 Einwohner* innen. Vor sechs Jahren startete hier das erste elektrische Dorfgemeinschaftsauto, kurz Dörpsmobil. „Angefangen hat alles 2014 mit einem Lebensqualitätscheck in unserer Kommune“, erzählt Bürgermeister Werner Schweizer. Die Bürger* innen wünschten sich Läden und Arztpraxen vor Ort, doch die Chancen einer Ansiedlung waren wegen des Konkurrenzdrucks aus Niebüll und Leck gering. Die Lösung: „Wir kompensieren diesen Mangel mit Mobilität!“ Das Land übernahm zwei Jahre lang die Kosten für die erforderliche Soft- und Hardware des Projekts Dörpsmobil. Inzwischen trägt sich das Angebot. Wer das Dörpsmobil nutzen möchte, wird Mitglied des DörpsCampus Klixbüll e. V., lädt sich eine App auf Smartphone oder PC, bucht den Wagen und los geht’s! Rund 40 Mitglieder hat der Verein. Die Älteste unter ihnen ist 96. „Die Dame bucht über mich und lässt sich von Verwandten fahren“, erklärt Werner Schweizer. Insgesamt stehen am Jahresende zwischen 12.000 und 18.000 Kilometer mehr auf dem Zähler des kleinen E-Gemeindeflitzers. Außerdem hat der Bürgermeister elf Ladesäulen bauen lassen – „die höchste Ladesäulendichte pro Einwohner in ganz Deutschland“. Der Strom kommt aus Klixbüller Windmühlen. Jede*r aus der Gemeinde darf hier kostenfrei Strom tanken, auch mit seinem privaten Fahrzeug. So will Werner Schweizer die E-Mobilität generell fördern. Auch der Schulbus fährt elektrisch. Aufgetankt mit dem Strom vom Schuldach kosten 100 Kilometer Fahrt so nur etwa 1,50 Euro.
Apropos Schulbusverkehr: Der Kreis Herzogtum Lauenburg hat sich dieser Herausforderung in einem gemeinsamen Projekt mit dem Landkreis Nordwestmecklenburg angenommen. „Minderung der Treibhausgas-Emissionen der Schülerbeförderung durch intelligente Systeme zur Fahrweg- und Fahrweise-Optimierung“ heißt es, kurz: MintesO. Tobias Frohnert, Pressesprecher des Kreises, skizziert die Ausgangssituation: „Besonders in ländlichen Gebieten fahren die Schulbusse oft viele Haltestellen an. Aber nicht bei jeder Fahrt steigt an jeder Haltestelle ein Kind aus.“ Die Folge: Die Schulkinder sind länger unterwegs, und die Busse verbrauchen mehr Kraftstoff. Bei MintesO schafft eine Software zur Routenoptimierung Abhilfe: Die Schüler*innen bekommen elektronische Fahrkarten, auf denen ihre Heimathaltestelle hinterlegt ist – natürlich verschlüsselt. Beim Einsteigen scannen sie die Karte oder nennen dem Busfahrer eine andere Haltestelle. Aus allen Wunschhaltestellen errechnet die Software dann die optimale Route. Auch Nicht-Schüler*innen können mitfahren, sie müssen vorher telefonisch einen Bus-Stopp bestellen. Das Ergebnis des Pilotversuchs 2019 in Ratzeburg: Fahrwege und -zeiten konnten deutlich verkürzt werden. Beim Pilotprojekt wurde zudem das Ziel von rund 20 Prozent CO₂-Einsparung sogar übertroffen. Im Juni 2022 startete die reguläre Umsetzung auf zwei Schulbuslinien. Beispiele wie diese zeigen: Es tut sich etwas bei der ländlichen Mobilität. Gemeinden, die noch auf der Suche nach einer passenden Lösung sind, können sich an das mobiliteam by NAH.SH wenden. Das Team hat sowohl die Vernetzung der einzelnen Akteur*innen als auch die unterschiedlichen Mobilitätsangebote im Blick. Mitarbeiterin Sonja Wolpers fasst es so zusammen: „Wir beraten, vernetzen und qualifizieren alle Kommunen, die sich mit uns auf den Weg in Richtung Mobilitätswende machen wollen.“