Zu Besuch bei Ausbildern von Blindenführhunden

Eine Frau steht an einer Bushaltestelle, an ihrer Seite ein Hund, der sich ein paar Handbreit vom Straßenrand aufgestellt hat und dort bewegungslos verharrt. Gut erzogen, denkt der ahnungslose Passant und möchte vielleicht sogar den braven Hund anerkennend streicheln. Doch auf den zweiten Blick sieht er, dass der Hund ein Geschirr trägt, darauf die Aufschrift: „Nicht streicheln. Ich arbeite!“ Dort angebracht ist ein bügelartiger Griff, den die Frau in der Hand hält. Spätestens jetzt ist der Groschen gefallen: Das Tier ist ein Blindenhund.

Einen Blindenhund – oder wie es korrekt heißt: Blindenführhund – anzufassen, während er im Geschirr ist, ist das Verkehrteste, was man machen kann, klärt uns Dagmar Freitag auf. „Der Hund muss sich zu 100 % auf seine Aufgabe konzentrieren, nämlich seinem Halter den Weg zu weisen. Jede Ablenkung kann da gefährlich, ja sogar lebensgefährlich sein.“ Dagmar Freitag ist Inhaberin von MenschHundTeam®. Zusammen mit ihrem Mann Stephan betreibt sie nicht nur eine „normale“ Schule und Pension für die Vierbeiner, sondern auch ein Assistenzhundezentrum, in dem unter anderem Rollstuhlbegleithunde und Therapiehunde trainiert werden. Die Königsdisziplin aber ist die Blindenführhundeausbildung.

Die Wirkungsstätte der Freitags liegt in Reecke, einem dörflichen Stadtteil an der Lübecker Peripherie. Als wir ankommen, herrscht Ruhe auf dem Gelände, kein bellender Hund, keine tobenden Rudel. Dagmar und Stephan Freitag machen uns bei einem Kaffee in der Küche mit dem Lehrplan ihrer tierischen Schüler vertraut. Dabei lernen wir als Erstes: Hunde lieben und brauchen einen sehr geregelten Tagesablauf mit festen Aktivitäts- und Ruhephasen. Momentan halten alle Siesta, doch später werden wir mit Sherlock unterwegs sein, einem prachtvollen weißen Königs­pudel aus eigener Zucht. Bei dem Namen muss er sein Herrchen ja auf die richtige Spur führen.

Der Bedarf an Pudeln oder auch Kreuzungen wie Labradoodle ist stark gestiegen, berichtet Stephan Freitag. Die Tiere seien sehr intelligent, beweglich und treu. Grundvoraussetzung für einen Blindenführhund ist die passende Größe, schließlich muss der Hund auch einen gewissen Zug entwickeln können.

„Dienst ist Dienst.“

In der Zucht liegt bei MenschHundTeam® der Schwerpunkt daher auf XXL-­Pudeln mit über 60 Zentimeter Schulter­höhe. Unserem Gespräch in der Küche lauscht Teyra. Die Hündin ist eine Mischung aus Portugiesischem Wasserhund und Mittelpudel und wird später einmal ein autistisches Mädchen begleiten. Dafür ist eine besonders enge Bindung zwischen Mensch und Hund wichtig.

Teyra steht noch am Anfang und lernt die Grundkommandos. „Sitz!“ und „Platz!“ müssen absolut in Fleisch und Blut übergehen, denn Ungehorsam darf ein Assistenzhund nicht im Programm haben. Von Anfang an gehe es um die Sozialisierung mit Menschen, betont Dagmar Freitag. Zwar dürfen die Welpen auch mal mit anderen Hunden spielen, aber vor allem sollen sie sich an den selbstverständlichen Kontakt mit Menschen gewöhnen. Welpen aus der eigenen Zucht leben daher von Geburt an mit im Wohnhaus der Freitags, Welpen von anderen Züchtern ab dem Zeitpunkt, zu dem sie von der Mutter getrennt werden dürfen. „Die Prägezeit bis zur 22. Woche müssen wir unbedingt nutzen. Es ist wichtig, dass dafür die Tiere nicht in Patenfamilien bleiben, weil die ja keine Profis sind und Fehler einarbeiten können. Das würde die Wahrscheinlichkeit erhöhen, dass der Hund später bei der Prüfung durchfällt.“

In der Ausbildung eines Blindenführhundes geht es zunächst darum, Gegenstände, Orte und Situationen gezeigt zu bekommen und diese dann Schritt für Schritt mit den zukünftigen Aufgaben zu verbinden.

„Sicherheit geht vor.“

Deshalb sollen die jungen Hunde bei jedem Spaziergang auf Hindernisse achten und den Bordstein anzeigen. „Wir sorgen dafür, dass sie bereits im zarten Alter Ampeln erkennen. Dafür gibt’s dann sofort ein Leckerli. Das handhaben wir anders als in unserer normalen Hundeausbildung, wo wir nur am Anfang einmal mit Leberwurst ‚bestechen‘“, erklärt Stephan Freitag.

Assistenzhunde müssten aber viel präziser geschult werden. Beim Bewegen im Straßenverkehr entstehen so spielerisch Kombinationen und Verknüpfungen. Die Hunde lernen voranzugehen und – ganz wichtig – ­zu führen. Dabei sollen sie immer öfter das Geschirr tragen und es sich sogar mit der Zeit gerne überstreifen lassen. „Das mögen Hunde eigentlich nicht. Alles, was Richtung Kopf geht, empfinden sie normalerweise als Bedrohung.“

„Übung macht den Meister.“

Nun geht’s los: Wir fahren mit Sherlock zum Bahnhof nach Reinfeld. 18 Monate ist er alt und seine Ausbildung neigt sich dem Ende zu. Auf dem Weg dorthin erklärt uns Frau Freitag noch ein paar Prinzipien. Im Dienst darf der Hund nur an einem Interesse haben: an seiner Arbeit. Deshalb auch das Streichelverbot. Nicht nur in der Ausbildung, sondern auch später seien Beutespiele wie etwa Ballspiele tabu. Feierabend ist erst, wenn der Mensch ihm ausdrücklich „frei“ gibt. Dann darf auch ein Blindenführhund einfach mal spielen, toben oder am Wegesrand schnüffeln. Für die Disziplin des Hundes trägt der Halter die Verantwortung – und damit für die eigene Sicherheit.

Apropos Sicherheit: Es gibt eine Ausnahme vom Gehorsamsgebot: Wenn Gefahr droht, darf sich der Hund nicht nur einem Befehl widersetzen, er muss es sogar! Ein Hund, der trotz des Kommandos „Voran!“ wie angewurzelt stehen bleibt, wenn ein Radfahrer den Weg kreuzt, hat seinen Job gemacht. Auch im Nahverkehr muss alles sitzen. Wenn eine blinde Person in einen Bus oder die Bahn einsteigen möchte, entscheidet der Hund, wo genug Platz ist. Am Bus sucht er immer die vorderste Tür, nicht nur damit sein Halter die Fahrkarte vorzeigen, sondern auch weil der Busfahrer bei Bedarf Unterstützung leisten kann.

Der Bahnhof Reinfeld ist ein gutes Trainings- und Demonstration­sareal. Hier haben die Freitags Sherlock durch stetige Wiederholungen beigebracht, die für die Führung seines Herrchens notwendigen Objekte und Markierungen zu erkennen und richtig einzuschätzen. Der Weg zum Fahrkartenautomaten ist noch eine harmlose Übung, anspruchsvoller sind Treppen und Bahnsteigkanten. Wenn Sherlock treppauf die erste Stufe erreicht, setzt er seine Vorderpfote darauf und bleibt stehen. Der Blinde kann sich dann auf den Anstieg einstellen. Genauso läuft es bei der letzten Stufe am oberen Ende der Treppe und an der ersten, wenn es wieder treppab geht. Durch die präzise eingenommene Position weiß der Halter genau, wohin er den nächsten Schritt setzen muss. Nicht anders sieht es an der Bahnsteigkante aus. Orientierung bieten die Bodenmarkierungen, die Sherlock zentimetergenau einhält. Wer sich von ihm führen lässt, weiß durch die Position des Hundes: Der Einstieg liegt jetzt etwa einen Meter vor mir. Auch die Taste zum Öffnen der Tür weiß Sherlock anzuzeigen, sobald der Zug zum Halten gekommen ist. Wer jetzt denkt, Hunde ersetzen ein Navi, liegt falsch und richtig zugleich. Ein Ziel konkret ansteuern, das kann der Hund – wenn er es bereits kennt und es angesagt bekommt. Dann kann er es sogar finden, wenn der gewohnte Weg versperrt ist und er einen Umweg suchen muss. Aber ein neues, unbekanntes Ziel findet er nicht, denn ein Hund hat nun einmal keinen Stadtplan dabei. Den ersetzt heutzutage ohnehin das Smartphone. Die meisten Sehbehinderten lassen sich den Weg von einer App oder einem Sprachassistenten beschreiben. Dass sie sicher am Ziel ankommen, dafür sorgen die Hunde.

Sherlock ist schon fast so weit, diese Verantwortung zu übernehmen. Ende des Jahres wird er nach Münster umziehen, um seinem zukünftigen Halter das Leben leichter zu machen. Leichter, das bedeutet in der Regel, dass alle Wege in etwa der halben Zeit absolviert werden. Zum Abschluss der Ausbildung wird das neue Herrchen 14 Tage nach Lübeck kommen, um sich richtig an seinen Helfer zu gewöhnen. Danach reist die Hundetrainerin mit Hund und Halter nach Münster. Zwei Wochen lang werden dort alle wichtigen Routinen eingeübt, bevor es noch einmal spannend wird. Sherlock muss die Prüfung vor einer Kommission bestehen, die aus dem Vertreter eines Blinden- und Sehbehindertenverbands, einem unabhängigen Führhundeausbilder und einem Mitarbeiter der Kranken­kasse als Kostenträger besteht. Grund zur Sorge hat Dagmar Freitag aber nicht: Bisher ist noch keiner ihrer Hunde durch die Prüfung gefallen.

Kontakt

MenschHundTeam®
Reecker Heide 61
23560 Lübeck
0451.880 370 50

www.menschhundteam.com