Volker Tiemann, 61 Jahre, aus Kiel

Ein Stuhl fürs Leben

Mein Stuhl an unserem Küchentisch ist so etwas wie ein Universalplatz. Ich sitze ganz selten auf dem Sofa. Auch nicht auf dem Sessel oder am Schreibtisch. Wenn ich zu Hause bin, dann sitze ich eigentlich immer auf dem Stuhl am Küchentisch. Hier kann ich Zeitung lesen, herumbasteln, schreiben, arbeiten, fernsehen, essen, Tee und Kaffee trinken, dösen, mich langweilen – hier verbringe ich meine Zeit mit meiner Frau, der Familie und Freund*innen. Im Grunde mache ich alles hier, außer meinen eigentlichen Arbeiten.

Über viele Jahre standen um den Küchentisch sechs Wirtshausstühle. Einfache Holzstühle aus den 1920er-­Jahren, die wir nie infrage gestellt hatten. Bis ich vor einiger Zeit eine Freundin in Berlin besuchte und dort auf einem derart bequemen Stuhl saß, dass ich mich fragte, warum ich das eigentlich zu Hause nicht auch tue. Auf Anraten eines befreundeten Industriedesigners bin ich dann zu ein paar ausgewählten Läden nach Hamburg gefahren. Leider war der bequemste Stuhl auch der teuerste. Zu teuer, dachte ich. Andererseits: Im besten Falle zieht man ja auch bequeme Hosen an und Sachen, die nicht drücken. Warum sollte das bei einem Stuhl anders sein?

Ein Freund hat bei der Anschaffung von vermeintlich teuren Gegenständen immer ausgerechnet, wie oft er diesen Gegenstand wohl anwenden und was eine Nutzung dann jeweils kosten würde. Anders als zum Beispiel bei einem goldenen Paillettenblazer für die Silvestergala kostet eine Stuhlbenutzung fast nichts. An zwei Weihnachten hintereinander hat mir meine Frau dann diesen Stuhl geschenkt. Nun steht er bei uns und ich sitze fabelhaft bequem am Tisch unserer Küche. Eine wunderbare Küche übrigens, die sich zu vielem eignet und obendrein eine schöne Geschichte hat. Das Hinterhaus, in dem wir wohnen, war nämlich Mitte des letzten Jahrhunderts die Echolotfabrik von Alexander Behm, der das Gerät Anfang der 1920er-Jahre in Kiel entwickelt hat. Die allerersten Echolote der Welt stammen also von hier. Und das Labor der Fabrik war in unserer Küche. Ob die Herrschaften dort ebenso bequem saßen, ist allerdings nicht überliefert.

Der Bildhauer Volker Tiemann gehört mit seinen feinen, komisch-klugen Holzskulpturen zu den renommierte­sten Gegenwartskünstlern des Landes. Der gebürtige Kieler studierte Freie Kunst an der Muthesius Kunsthoch­schule Kiel bei Jan Koblasa und am Norfolk Institute of Art and Design in Norwich. Arbeitsstipendien führten ihn u.a. nach New York und Paris, aber auch nach Föhr. Tiemanns Arbeiten befinden sich in Museen sowie in privaten und öffentlichen Sammlungen.