Die Ostsee ist beliebt. Im Sommer gönnen sich Einheimische wie Urlaubsgäste ein erfrischendes Bad, durchpflügen als Wassersporttreibende die Wellen oder sonnen sich im warmen Sand. Wenn das Thermometer sinkt, locken als kostenlose Seelenmassage entspannte Strandspaziergänge. Doch so erholsam all das zweifellos ist, es gibt auch deutlich ungemütlichere Ecken an oder besser gesagt: in der Ostsee. Geschätzte 300.000 Tonnen Munition sind während und nach den zwei Weltkriegen in die deutsche Ostsee gestürzt oder dort nach Kriegsende gezielt versenkt worden, in der Nordsee sogar noch weit mehr – eine zunehmende Gefahr für das Ökosystem. Jetzt hat eine Bergungstestphase im Rahmen des Sofortprogramms „Munitionsaltlasten in Nord- und Ostsee“ des Bundesumweltministeriums begonnen, für das die Bundesregierung 100 Millionen Euro bereitgestellt hat. Die los! geht der Sache auf den Grund.
GEOMAR-Meeresgeologe Prof. Dr. Jens Greinert leitet das Team an Bord des Forschungsschiffs ALKOR.
„So, das ist jetzt der Emmentaler“, informiert uns Prof. Greinert. Emmentaler? „So nennen wir eine von sieben Minen, die hier nah zusammenliegen. Bei ihr ist die Hülle komplett weggerostet, sodass der Sprengstoff freiliegt. Und wir finden, dass die mit all ihren Löchern wie ein Käse aussieht.“ Prof. Dr. Jens Greinert vom GEOMAR Helmholtz-Zentrum für Ozeanforschung Kiel sitzt an Bord des Forschungsschiffs ALKOR vor einem großen Monitor und erläutert den anwesenden Journalist*innen das Livebild, das der ferngesteuerte Tauchroboter „Käpt’n Blaubär“ vom Meeresboden vor Pelzerhaken sendet. Seit Mitte September 2024 sind einige vom Bundesumweltministerium (BMUV) beauftragte Unternehmen dabei, Methoden und Technologien für die Munitionsräumung in der Lübecker Bucht bei Pelzerhaken und Haffkrug zu erproben. Jetzt, Mitte Oktober, stößt auch das GEOMAR-Team um Prof. Greinert dazu, um den Zustand am Meeresboden nach den Räumungsarbeiten zu begutachten, also ein sogenanntes Monitoring durchzuführen.
Doch der Reihe nach: Um mehr über die Munition am Meeresgrund zu erfahren, besuchen wir zunächst Alexander Bach, im Schleswig-Holsteinischen Landesministerium für Energiewende, Klimaschutz, Umwelt und Natur (MEKUN) zuständig für Wassergefahrenmanagement. Er versorgt uns mit einem Überblick über das Thema: „Deutschland sollte nach Ende des Krieges schnell entmilitarisiert werden. Deshalb hat man noch vorhandene Munition mit Eisenbahnwaggons in die Häfen gebracht, dort auf Schiffe verladen und in den Gebieten, die die Alliierten für Versenkungen vorgesehen hatten, einfach ins Meer gekippt. Alle diese Vorgänge sind gut dokumentiert und wir wissen durch Archivrecherchen, dass in deutschen Meeresgewässern etwa 1,6 Millionen Tonnen Munition liegen, davon 300.000 Tonnen in der Ostsee.“ Mehr als ein halbes Jahrhundert passierte sehr wenig. Das Thema nahm erst Fahrt auf, nachdem 2011 eine Arbeitsgruppe aus Bundes- und Landesbehörden und Wissenschaftler*innen in einem Grundlagenbericht zum ersten Mal systematisch die Munitionsbelastung beschrieben hatte. Das Land Schleswig-Holstein treibt seitdem das Thema beharrlich voran.
„Lange galt: Was ich nicht sehe, ist auch nicht da.“
Alexander Bach, Landesumweltministerium Schleswig-Holstein
Auch die Forschung entdeckte das Thema, nicht zuletzt, weil sich der Fokus verschob, wie Alexander Bach uns erklärt: „Bisher hatte man immer unter dem Aspekt der Gefahrenabwehr draufgeguckt und gefragt: Ist die Munition gefährlich für einen Schifffahrtsweg, ist sie gefährlich für einen Fischer? Wenn ja, muss sie da weg. Ansonsten galt: Es ist ja unter der Wasseroberfläche, und was ich nicht sehe, ist auch nicht da.“ Nun aber gerieten die Umweltfolgen in den Blick. Die Explosionsgefahr ist nämlich gar nicht das größte Problem, denn die allermeiste verklappte Munition wurde ohne Zünder versenkt. Aber der enthaltene Sprengstoff, überwiegend Trinitrotoluol (TNT), ist sehr giftig und krebserregend. Mit der Zeit rosten die Metallhüllen der Minen, Granaten oder Torpedoköpfe durch und geben langsam, aber sicher das Gift ins Wasser ab. Und auch die Zerfalls- und Umbauprodukte von TNT sind toxisch. Der Toxikologe Prof. Dr. Edmund Maser hat am Universitätsklinikum Schleswig-Holstein Methoden entwickelt, um die Schadstoffbelastung im Wasser und die Auswirkungen auf die Tierwelt zu messen. In unmittelbarer Nähe von Minen platzierte sein Team zu Analysezwecken sogenannte Muschel-Moorings. Dabei wird mit einem Gewicht und einem Schwimmkörper ein Netz mit etwa 20 Muscheln in der Schwebe gehalten. Die Muscheln filtern unablässig das sie umgebende Wasser. Je mehr Sprengstoff offen im Wasser liegt, desto mehr Schadstoffe reichern sich im Muschelfleisch an. Fische und Meeresfrüchte wird man dennoch die nächsten Jahrzehnte bedenkenlos essen können. Das liegt daran, dass die Konzentration im Wasser, dem die Tiere ausgesetzt sind, noch niedrig ist und dass von Veränderungen nicht das Filetfleisch, sondern vor allem Leber und Galle der Tiere betroffen sind. Aber was die Belastung von Jungfischen und Fischembryonen für den Bestand bedeutet, ist noch gar nicht vollständig absehbar. Wir denken vor diesem Hintergrund an den „Emmentaler“: ein ganz und gar unbekömmlicher Käse.
Mine am Meeresgrund.
Wir treffen Dagmar Struß, Leiterin der NABU-Landesstelle Ostseeschutz. Sie stellt beim Thema Munitionsbergung einen Bewusstseinswandel fest. Den entscheidenden Wendepunkt sieht sie im August 2019: „Da hat ein NATO-Flottenverband mitten im Naturschutzgebiet Fehmarnbelt 42 Grundminen gesprengt und damit wichtige Lebensräume zerstört. Dabei wurde TNT in einer hohen Konzentration im umliegenden Meer verteilt.“ Außerdem konnte bei acht tot aufgefundenen Schweinswalen die Todesursache mit großer Wahrscheinlichkeit auf die Sprengung zurückgeführt werden. „Für uns ist deshalb besonders wichtig“, betont Dagmar Struß, „dass mit den weiterentwickelten Technologien vor allem die fragilen Minen geborgen werden, um die bisherige Praxis dieser Sprengungen vollständig zu vermeiden.“
Zurück an Bord der ALKOR: Gerade hat ein AUV seine Arbeit beendet.
Liebevoll KALLE genannt – zwei weitere heißen ANTON und LUISE –, wird es mit dem Bordkran aus dem Wasser gehievt. Tim Weiß, Marinetechniker und Mitglied in Jens Greinerts Arbeitsgruppe, erklärt uns das fleißige Gerät: „AUV heißt Autonomous Underwater Vehicle oder Autonomes Unterwasserfahrzeug. Diese mit Sensoren bestückten Geräte werden für eine bestimmte Aufgabe programmiert, die sie dann selbstständig und automatisch erfüllen. Zum Beispiel fahren sie anderthalb Meter über dem Grund eine festgelegte Fläche ab, und zwar im Rasenmähermuster, also Zeile für Zeile immer hin und her. So erzeugen sie sehr genaue Aufnahmen des Meeresbodens.“ Wir erfahren, dass die Sensoren Kameras sein können oder Sonare, die mit akustischen Signalen, ähnlich wie Delfine, ihre Umgebung abtasten. An AUV LUISE hängt außerdem ein Magnetometer, das von GEOMAR-Mitarbeiter*innen konstruiert worden ist. Damit lassen sich auch Munitionsteile detektieren, die ins Sediment eingesunken und für die anderen Sensoren nicht mehr sichtbar sind.
Mithilfe der AUVs leistet die Arbeitsgruppe von Prof. Greinert seit 2016 wichtige Grundlagenarbeit. Die flache Ostsee landete erst durch das Thema Munition auf Greinerts Radar, denn eigentlich ist er auf DeepSea Monitoring, also die Erkundung des Meeresbodens in tiefen Gewässern, spezialisiert: „Das Problem haben wir aber schnell als technisch, wissenschaftlich und nicht zuletzt gesellschaftlich hochrelevant erkannt.“ In den Versenkungsgebieten kartierten Greinert und sein Team mit Kameras etwa 100 × 100 Meter große Flächen Meeresboden um Munitionshaufen herum – mit einer Auflösung von etwa zwei Millimetern. Die Einzelbilder wurden zu großen Fotomosaiken zusammengestellt und stellen die entscheidenden Informationen für die Unternehmen bereit, die nun im Auftrag des Bundes konkrete Technologien zur Räumung erproben und (weiter-)entwickeln.
„Das Problem ist technisch, wissenschaftlich und gesellschaftlich hochrelevant.“
Prof. Dr. Jens Greinert, GEOMAR Helmholtz-Zentrum für Ozeanforschung Kiel
In der Lübecker Bucht ist zunächst eher sortiert als geborgen worden. Zwar haben die Räumfirmen im September etliche Tonnen Munition in Kisten aus dem Wasser geholt, aber die Pilotbergung soll vor allem erst mal Antworten auf wichtige Fragen geben: Welche Munition liegt genau auf dem Boden? In wie vielen Schichten? Wie tief im Sediment muss man mit Munition rechnen? In welchem Zustand sind die unterschiedlichen Munitionstypen? Kann man sie vielleicht unter Wasser in einem speziellen Container sichern und vorläufig lagern? Noch müsste geborgene Munition auf dem Landweg zu einer Vernichtungsanlage transportiert werden, in Zukunft soll sie auf einer schwimmenden Plattform direkt auf See oder küstennah vernichtet werden können. Anvisiert sind effektivere, schnellere und sicherere Arbeitsschritte – je automatisierter die Bergung verläuft, desto besser. Taucher*innen sollen möglichst wenig zum Einsatz kommen.
Auch die Fahrt auf der ALKOR, die wir an einem Tag begleiten dürfen, dient der Wissensvermehrung. AUV KALLE hat den von den Räumfirmen bearbeiteten Abschnitt erneut gescannt, um eine Vorher-Nachher-Kartierung zu erhalten. „Käpt’n Blaubär“ hat Wasserproben entnommen und um Sedimentproben zu bekommen, senkt der Kran immer wieder einen kleinen Greifer auf den Grund – kontrolliert von einer Kamera, schließlich will man nicht versehentlich in eine Bombe greifen. „Die Munition liegt ja in der Regel in unübersichtlichen Haufen auf dem Meeresgrund. Die Räumfirmen konnten aufgrund unserer Daten, vor allem der Fotomosaiken, entscheiden, mit welcher Technologie sie die Haufen beräumen wollen“, erklärt uns Jens Greinert. „Wir entwickeln immer weiter, denn auch neue Technologie treibt den Fortschritt an. Vor zehn Jahren waren die analytischen Möglichkeiten zur Sprengstoffuntersuchung noch nicht so gut. Heute lassen sich in Wasserproben mit dem Massenspektrometer präzise verschiedene Sprengstoffe und ihre Mengen identifizieren.“
Tauchroboter „Käpt’n Blaubär“ kann Livebilder vom Meeresgrund senden.
Unter Deck besprechen Prof. Greinert und
Tim Weiß aktuelle Aufnahmen.
„Autonome Unterwasserfahrzeuge erzeugen sehr genaue Aufnahmen des Meeresbodens.“
Tim Weiß, Marinetechniker bei GEOMAR
Apropos technologischer Fortschritt: Der lässt sich auch als Wirtschaftsfaktor begreifen. Wir verlassen die ALKOR und sprechen mit Dr. Sabine Schulz, die bei der Industrie- und Handelskammer (IHK) die Ansprechpartnerin für maritime Wirtschaft ist. Sie erklärt uns: „In Schleswig-Holstein wird gerade bildgenerierende Sensorik weiterentwickelt. Man kann immer besser unterscheiden: Ist das ein Geisternetz, ist das Munition, ist das ein Stein? Und da Munition im Meer ein weltweites Problem ist, gehen wir davon aus, dass wir diese Technologie zukünftig auch exportieren können.“ Große Unternehmen und Start-ups forschen gerade auf dem Gebiet der Meerestechnik, ein vielversprechendes Feld, in dem sich mit großer Wahrscheinlichkeit auch neue Berufsbilder entwickeln werden. Kompetenz bei der Beurteilung von Munitionsarten und -zuständen wird gefragt sein.
Mit wem wir auch gesprochen haben – alle an diesem ehrgeizigen Projekt Beteiligten sind sich einig: Das Zeug muss da raus! Jedenfalls da, wo es geht. An Motivation und Optimismus mangelt es nicht, immer wieder lautet der Tenor: Wir ziehen an einem Strang. Wir packen das Problem jetzt an. Aber es ist auch allen klar, dass es kein Sprint sein wird, sondern ein Langstreckenlauf. Es ist eine Generationenaufgabe.
„Wir gehen davon aus, dass wir Technologien zur Munitionsbergung zukünftig auch exportieren können.“
Dr. Sabine Schulz, IHK Schleswig-Holstein
AUV KALLE wird zu Wasser gelassen.