Die Pandemie hat die Arbeitswelt in den vergangenen zwei Jahren ordentlich auf den Kopf gestellt. Jahrzehntelange Praktiken wie die Anwesenheitspflicht wurden über Bord gekippt. Angestellte arbeiten heute oftmals „remote“, also aus der Ferne, für einen Arbeitgeber, der seinen Sitz hunderte oder gar tausende Kilometer vom eigenen Wohnort entfernt hat. Freiberufliche Kreative verlassen die Metropolen und entdecken das Landleben. Doch viele machen dabei die Erfahrung, dass das „Homeoffice“ allein noch nicht die Antwort auf den Pendlerstress ist. Manchen fehlt die Tagesstruktur und der zwischenmenschliche Kontakt, anderen fällt die Abgrenzung zum Privatleben schwer. Zunehmend beliebter wird daher Coworking, also das Konzept eines gemeinsam genutzten Arbeitsraumes, der zu gegenseitiger Inspiration und Kooperation anregt. Waren solche „Spaces“ noch vor ein paar Jahren nur in Großstädten zu finden, entstehen inzwischen immer mehr Coworking-Orte auf dem platten Land. Unsere los!-Reporterin hat zwei solcher Projekte in Schleswig-Holstein besucht.
Wendelin Teschemacher (links), Geschäftsführer der Impulsraum GmbH, und Impulsraum-Gründer Heiko Kolz
Der gemauerte Torbogen des Hofs Wulfsfelde am Westensee atmet Geschichte. Unter meinen Füßen knirscht der Kies und in der Ferne klopfen die Spechte. Ich stehe im Innenhof vor dem Alten Heuboden, dem ehemaligen Kuhstall des Hofs, der ungefähr 20 Kilometer westlich von Kiel liegt. „Coworking am Westensee“ steht auf dem Schild am grünen Scheunentor. Ich komme nicht umhin, mich zu fragen, wie das zusammengeht: Natur pur, die ländliche Idylle in Reinform, und die schnelllebige, digitale Arbeitswelt von heute. Heiko Kolz ist Gründer, Wendelin Teschemacher Geschäftsführer der Impulsraum GmbH, die den gleichnamigen Coworking-Space betreibt. Ich treffe die beiden ein Stockwerk höher, in einem 200 Quadratmeter großen Raum, lichtdurchflutet und mit Blick auf den See, mit hohen Decken und Dielenböden. Kann man sich hier gut konzentrieren oder ruft der See ganz laut, besonders im Sommer? Für Heiko schließt das eine das andere nicht aus: „Mein Ansporn war es immer, an schönen Orten zu arbeiten“, sagt er. „Ich möchte aus beiden Welten das Beste herausnehmen und schauen, wie ich diese Arbeitswelt ermöglichen und gestalten kann. Und da sind wir beim Begriff Coworking.“ Im hinteren Bereich des Heubodens rattert eine Nähmaschine. „Unsere Änderungsschneiderin ist schon lange dabei, außerdem eine Sonnensegelmacherei. Zeitweise hatte sich ein Physiker bei uns eingemietet, der seine Habilitation geschrieben hat. Dazu kam ein Gewässerbiologe. Das war ein wilder Mix. Aber sehr fruchtbar.“
Manfred Kleeberg, Coworker am Westensee
Ulrike Münzberg-Niemann, Standortmanagerin in Gettorf
Der erste und bislang einzige kommunal betriebene Coworking-Space in Schleswig-Holstein liegt in Gettorf, einem Ort mit knapp 7.800 Einwohner*innen im Dreieck zwischen Kieler Förde, Eckernförder Bucht und dem Nord-Ostsee-Kanal. Im Oktober 2020 eröffnete die Gemeinde dort das „Gettwork“. „Coworking sagte mir zunächst wenig“, gibt Standortmanagerin Ulrike Münzberg-Niemann zu, als sie uns die Räumlichkeiten zeigt. „Der Pop-up-Container von CoWorkLand, der im Sommer 2018 bei uns auf dem Karl-Kolbe-Platz stand, war der Pikser von außen, den wir gebraucht haben. Da haben sich tatsächlich direkt Menschen gefunden, die angefangen haben, in dem Coworking-Container zu arbeiten.“ Schon früh ging die Kommune dann eine Zusammenarbeit mit Dataport ein, einem IT-Dienstleister für die öffentliche Verwaltung, der bis heute Ankermieter im „Gettwork“ ist. Entstanden ist ein pulsierender Arbeitsort nur drei Minuten vom Bahnhof entfernt, ausgestattet nach den aktuellen Arbeitsschutzstandards, der den Nutzer*innen 24 Stunden am Tag, sieben Tage die Woche zur Verfügung steht. „Ein bisschen stolz bin ich schon, dass wir das Gettwork auf die Beine gestellt haben“, sagt Ulrike Münzberg-Niemann. „Unser Ziel ist es, das Gettwork als Anlaufstelle für alle Fragen rund um den Wirtschaftsstandort Gettorf zu positionieren. Eine Coworkerin hat zum Beispiel hier bei uns ihr Start-up gegründet. Insofern kann man den Coworking-Space auch als Instrument der Wirtschaftsförderung bezeichnen.“
„Der Coworking-Space ist ein Instrument der Wirtschaftsförderung.“
Ulrike Münzberg-Niemann, Standortmanagerin in Gettorf
Als kommunal betriebener Coworking-Space ist das Gettorfer Projekt für Menschen aus ganz Deutschland von Interesse. Ulrike Münzberg-Niemann wird häufig gefragt, wie die Gemeinde vorgegangen sei und wie es geklappt habe, alle Beteiligten im Entstehungsprozess mitzunehmen.
Ulrich Bähr von der Genossenschaft CoWorkLand ist für den Pikser verantwortlich, der in Gettorf den Anstoß gab, dieses Neuland zu betreten. „Am Anfang stand die Annahme, dass es den Menschen leichter fällt, dort zu arbeiten, wo sie wohnen“, sagt er. Aber funktioniert das auch in der Praxis? „Dazu haben wir 2018 den Coworking-Pop-up-Container gebaut und das Konzept vor Ort ausprobiert. Mit erstaunlicher Resonanz.“
„Menschen fällt es leichter, dort zu arbeiten, wo sie wohnen.“
Ulrich Bähr, Genossenschaft CoWorkLand
Heute gibt es über 200 selbstständige Coworking-Spaces in Deutschland, die in der Genossenschaft CoWorkLand organisiert sind. Eine Art Selbsthilfe-Verein, wie Ulrich Bähr ihn beschreibt, ein Empowerment-Laden, der deutschlandweit gerade sehr schnell wächst. Mittels Begleitforschung und Potenzialanalyse versucht er einzuschätzen, welcher Bedarf in verschiedenen Regionen und Bundesländern besteht und welche Effekte aus Coworking-Möglichkeiten erwachsen. „Große CO2- Einsparpotenziale liegen zum Beispiel in der Nutzung der Coworking-Spaces für Angestellte und ihre Arbeitgeber“, sagt er. „Im Großraum Kiel könnten wir mit Einsparungen in einer Größenordnung von 500.000 PKW-Kilometern oder 85 Tonnen CO2 rechnen – und das jeden Tag.“
Mit der Landesregierung Schleswig-Holstein, einem der größten Arbeitgeber im Land, hat CoWorkLand dazu im Oktober 2021 das erste große Pilotprojekt gestartet: Ein Rahmenvertrag sieht vor, dass alle Landesbediensteten in den Coworking-Spaces von CoWorkLand arbeiten können. Damit das Konzept aufgeht, braucht es gut erreichbare Coworking-Plätze im ganzen Land. Das ist gut für die Angestellten, die Pendelstress vermeiden können, aber auch attraktiv für die Politik, die um das Erreichen ihrer Klimaziele kämpft.
Ulrich Bähr, Genossenschaft CoWorkLand
„Ich brauche die Trennung von privatem und beruflichem Leben, um produktiv zu bleiben.“
Manfred Kleeberg, Coworker am Westensee
Zurück nach Wulfsfelde, zum Durchatmen am Westensee. Im Impulsraum gibt es jetzt einen Cappuccino aus dem professionellen Kaffeevollautomaten. Ich treffe Manfred Kleeberg, einen Coworker aus dem Nachbardorf. „Warum“, frage ich ihn, „arbeitest du nicht zuhause?“ „Meine Firma hat ihren Stammsitz in Köln“, erzählt er. „Anfangs habe ich im Homeoffice gearbeitet, aber irgendwann haben mir die Struktur und Kontakte gefehlt. Ich brauche die Trennung von privatem und beruflichem Leben, um produktiv zu bleiben.“ Niklas Immink kommt gerade aus der Telefonbox. „Für Videokonferenzen und vertrauliche Telefonate ist die ideal“, sagt er. „Ich arbeite für eine Firma aus Neuseeland, die prothetische Hände herstellt. Bei mir zuhause habe ich nicht die räumlichen Möglichkeiten zu arbeiten.“ Der Coworking-Space ist für beide das fehlende Puzzlestück. Und auch die Gemeinde Felde profitiert: Bleiben die Berufstätigen im Ort, bleibt auch ihre Kaufkraft und die gesamte Infrastruktur wird gestärkt. Im Impulsraum stimmt das Verhältnis von Nähe und Distanz. Auch weil viele Coworker*innen längerfristig bleiben, kann ein tragfähiges Netzwerk entstehen. „Coworking gibt im momentan großen Unsicherheitsraum der sich wandelnden Arbeitswelt ein Stück Sicherheit zurück“, sagt Heiko Kolz. „Und mehr noch: Coworking ist ein Magnet für Leute, die sich verwirklichen wollen.“ So auch Wendelin Teschemacher, der sich federführend um die Community des Impulsraums kümmert. Er hat gerade sein Unternehmen „Träumerei“ gegründet. Es richtet sich an Menschen, die ihren Traumberuf kennen, aber noch keinen Weg gefunden haben, diesen zu leben. Den Begriff Work-Life-Balance hält er für falsch: „Denn wenn man den Traumberuf gefunden hat, dann ist es egal, ob es Samstag, Sonntag oder Montag ist.“
„Cowork ist nicht einfach nur ein Raum. Cowork ist eine Philosophie.“
Heiko Kolz, Gründer des Impulsraums im Hof Wulfsfelde
„Auf dem Land ist der Gedanke des Teilens uralt“, sagt Ulrich Bähr von CoWorkLand. „Früher wurden zum Beispiel landwirtschaftliche Geräte im Ökosystem Dorf gemeinsam genutzt. Gemeinschaft hat auf dem Dorf schon immer eine große Rolle gespielt.“ Coworking trägt diesen Gedanken in die Gegenwart. Da ist es nur konsequent, dass die Genossenschaft als nächsten Schritt Kooperationen mit Car-Sharing- oder Bike-Sharing-Anbietern plant. Denn auch im Bereich Mobilität gibt es Synergien, die man nutzen kann, wenn man es will. Und um diese Ideen Wirklichkeit werden zu lassen, braucht es nicht nur Glasfaser & Co., sondern auch Menschen, die diese neue Bewegung leben: weg von Eigentum und Besitz hin zum Teilen. „Cowork ist nicht einfach nur ein Raum“, sagt Heiko Kolz, „Cowork ist eine Philosophie.“ Das Beste aus zwei Welten, wie Heiko zu Beginn meines Besuchs am Westensee meinte. Das Beste des Landlebens sind die Gemeinschaft und zugleich das „Bei-sich-Sein“, umgeben von Natur. Das Beste der modernen Arbeitswelt sind die Flexibilität, wo, wann und wie man arbeiten möchte, und die Möglichkeit zur Verwirklichung eigener Ideen. Beides findet im Coworking-Space auf dem Land seinen Platz.