Auf Entdeckungstour im Miniatur Wunderland

Wer das Miniatur Wunderland in Hamburgs Speicherstadt wiederholt besucht, begegnet mit jedem Mal einem Stückchen mehr von der Welt. Was vor 20 Jahren mit der liebevoll ausgestatteten Fantasiestadt Knuffingen, dem Harz und Österreich begann, ist nun dabei, Kontinent um Kontinent für sich zu erobern. Zwar sind bisher die USA mit Las Vegas, Grand Canyon und Miami Beach die einzige Überseestation, aber Südamerika ist im Bau und die Gedanken der Wunderländer kreisen bereits um Asien und Afrika. Schon jetzt ist es die größte Modelleisenbahnanlage der Welt: Auf 1.500 Quadratmetern sind hier fast 16 Kilometer Schienen verbaut, bevölkert von 269.000 Figuren, bewundert von über einer Million Gästen im Jahr – zumindest bis Corona im März 2020 eine zweimonatige Schließung erzwang. Im Herbst musste das Wunderland seine Pforten erneut schließen. Unser los!-Reporter hat in der Zwischenzeit einen Blick hinter die Kulissen geworfen
und kam aus dem Staunen und Schmunzeln nicht heraus. Fesselnd war nicht nur die technische und logistische Leistung, sondern vor allem die Fülle an Details und Alltagsszenen.

Als wir die Stufen des roten Backsteingebäudes hinaufsteigen, in dem das Miniatur Wunderland ausgestellt ist, fallen uns sofort kleine Verkehrszeichen auf dem Boden auf. Außerdem gibt es Fahrbahnen und Richtungspfeile. Den Besucherverkehr in Zeiten der Pandemie regelt jetzt die WuStVO, die Wunderländer Straßenverkehrsordnung. Bei unserem Besuch begleitet uns Conni aus dem Presseteam des Wunderlands. Sie erzählt uns, wie es zu dem neuen Leitsystem kam. „Als wir im Mai 2020 wieder öffnen konnten, brauchten wir ein Konzept. Da bei uns ja chronischer Platzmangel herrscht, war das mit dem Abstandhalten so eine  Sache. Daher mussten wir unsere Gäste ein bisschen an die Hand nehmen. So kam die Idee mit den Verkehrszeichen auf. Die passen thematisch zu uns und die kennt jeder.“ In mehreren Tagen und Nächten wurden Hunderte Meter Klebeband auf dem Boden befestigt, die als Einbahnstraße einen Rundgang markieren. Ab dem Zeitpunkt durften nur noch etwa ein Fünftel der Besucher herein. Dafür standen die Tore jetzt oftmals von 7 Uhr morgens bis 2 Uhr nachts offen. Und das war auch nötig, denn die Nachfrage war zur Überraschung des Teams trotz Pandemie weiterhin immens. Seitdem ist das Wunderland praktisch durchgehend ausverkauft, Online-Tickets sollten also rechtzeitig im Voraus gebucht werden.

 

„Bei uns tobt das Leben.“

 

Mit der verringerten Besucherkapazität ist eines nicht mitgeschrumpft: die Leidenschaft und Tatkraft der Mitarbeiter. Kürzlich wurde die neue Kirmes eröffnet, der alte Rummelplatz konnte mit dem Ideenreichtum der Mitarbeiter nicht mehr Schritt halten. Auf zwei zusätzlichen Quadratmetern kamen neue Attraktionen und Fahrgeschäfte dazu, doch das warf auch Fragen auf. Es sind viele Figuren beim Feiern auf engem Raum zu sehen, während die Menschen in ihrem Leben Abstand halten müssen. Bildet man das ab? „Nein“, sagt Conni, „das wäre ein trauriges Bild, wenn die im Wunderland abgebildete Welt Corona-konform wäre. Bei uns tobt das Leben! Wir können uns sehr genau an der Realität orientieren, müssen es aber nicht.“ Ein Detail hat es trotzdem auf die Kirmes geschafft: „Die Modellbauer haben es sich nicht nehmen lassen, vor einer Bude ein paar Abstandsmarkierungen anzubringen. Das haben sie auch niemandem erzählt und es ist erst bei der Eröffnung aufgefallen.“

Wir sind neugierig, ob wir ein bisschen Schleswig-Holstein im Wunderland entdecken können. Vielleicht ja als saftiges Stückchen Hamburger Speckgürtel, gespickt mit ein paar flotten Regionalbahnen? Nach kurzer, erfolgloser Suche fragen wir lieber Conni. Und tatsächlich: Einen originalen Waggon aus dem schleswig-holsteinischen Nahverkehr kann sie uns zeigen. Auf Orte wie Norderstedt oder Ahrensburg hoffen wir aber vergeblich. „Das ist hier eher ein Fantasie-Hamburg. Die Stadt war die erste Erweiterung des Wunderlands nach den drei Ur-Abschnitten. Da haben wir Landmarken gesetzt: Landungsbrücken, Michel, Elbphilharmonie, Volksparkstadion, Speicherstadt. Der Detailierungsgrad hat mit der Zeit zugenommen, aber an den realen räumlichen Zusammenhängen Hamburgs sollte man sich in der Anlage lieber nicht orientieren.“ Wenn man genau hinguckt, findet man in der Miniatur-Speicherstadt natürlich auch das Wunderland. Und wenn man noch genauer hinguckt, sieht man durch die Fenster auch winzige Züge fahren – eine Mikrowelt in der Miniwelt.

Im Moment weht ein Hauch von Formel 1 durch das Wunderland. Über 50 Wunderländer waren nach Monaco gereist. Mit jeder Menge Information, Fotos und Eindrücken im Gepäck kamen sie zurück und nun wird der Zwergstaat nachgebildet. Die Arbeiten laufen auf Hochtouren und wir dürfen hinter die Kulissen blicken. Eine der Hauptattraktionen soll der Große Preis von Monaco werden. Während die Hauptkonstruktionen – etwa die begrünten Berge – weitgehend fertig sind, tüfteln die Wunderländer noch an den Details. Sie experimentieren mit der Farbe des Wassers, ein Pappkarton dient in einer Stellprobe als Boxengasse, authentische Straßenschilder werden angebracht. Jens ist mit der Herstellung der Rennwagen beschäftigt. Der gelernte Außenhandelskaufmann hat sein Hobby zum Beruf gemacht. „Die Wagen gibt es nicht zu kaufen. Die machen wir alle in Kleinstarbeit selbst.“ Manchmal bekämen sie Hilfe von den Rennställen, aber die Nützlichkeit hat Grenzen. „Wenn ich 3-D-Daten bekomme, dann kann ich trotzdem nicht einfach ein 5-mm-Blech durch 87 teilen. Das wäre ja viel zu dünn.“ 1 : 87 – das ist der Maßstab, an dem hier alles gemessen wird. Wir fragen Jens noch danach, ob 3-D-Drucker oder -Scanner die Arbeit revolutioniert hätten. „Das ist einfach nur ein weiteres Werkzeug. Es ist nicht so, dass das Wunderland in Zukunft einfach ausgedruckt wird.“

 

„Boxenstopp für Tüftler.“

 

Tischlerin Judith fertigt währenddessen hauptsächlich Unterbaukonstruktionen an. Sie hat viel von dem Stahl geschweißt, der die Provence trägt, die gerade fertig geworden ist und an die Monaco direkt anschließen wird. Ein Augenmerk liegt dabei darauf, dass das Gewicht für die Tragfähigkeit der Decken nicht zu groß wird. Auf die Schlagzeile „Durchbruch im Miniatur Wunderland“ kann hier jeder verzichten.

 

„Alleine kommst du hier nicht weit.“

 

Judith betont den Teamcharakter. Man brauche ständig die Kollegen, um in seiner Arbeit voranzukommen. „Alleine kommst du hier nicht weit.“ Auf der anderen Seite existiere eine ungeheure Freiheit, sich mit seinen Ideen einzubringen. Das bestätigt Tino, auch er ist gelernter Tischler. Im Modellbau kämen die Kollegen aus den unterschiedlichsten Ausbildungen. „Das erkennt man auch daran, dass sie eine unterschiedliche Sicht darauf haben, wie man Dinge realisiert. Was natürlich super ist, weil man sich so sehr gut ergänzt.“ Judith empfiehlt uns einen Blick unter die Schweiz. Das Alpenland ist die einzige Attraktion, die über zwei Stockwerke führt. Was von außen zu einem wahrhaft erhabenen Blick in grüne Täler führt, ist im Inneren eine logistische Herausforderung. Conni führt uns ins Matterhorn hinein. Hier befindet sich der größte Schattenbahnhof. In einer riesigen Gleiswendel überwinden die Züge Windung für Windung die Höhenunterschiede, denn steil bergauf oder bergab können sie nicht fahren. Während wir mit eingezogenem Kopf die Luken und Leitern, die ins Bergmassiv führen, bestaunen, geht Conni zu einem Kühlschrank und versorgt uns zur Stärkung mit einem Stückchen Schokolade – natürlich aus der Schweiz.

„Fantasiewelt mit Realitätsbezug.“

 

Verbrechen, Obdachlosigkeit, Klimawandel – auch diese Themen haben im Wunderland ihren Platz. Ausdrücklich soll hier Stellung bezogen werden, soll sich eine Haltung zu gesellschaftlichen Fragen zeigen. In Skandinavien steht die schwedische Schülerin Greta Thunberg protestierend auf einer Eisscholle, eine Solidaritätsbekundung für die jugendliche Klimaaktivistin. Es gibt ständig Überlegungen, ob Bevölkerungsgruppen durch die Figürchen angemessen repräsentiert sind. Eine Sonderausstellung stellt anschaulich die Verhältnisse in der Massentierhaltung dar. Auch die Polizei weiß den Realitätsbezug des Wunderlands zu schätzen: Als der sogenannte Enkeltrick in Hamburg um sich greift, kommt die Anfrage, ob sich die Wunderländer nicht einmal dieses Themas annehmen könnten – flugs wurde ein Video mit Figuren und Gegenständen aus der Anlage produziert, das über die Betrugsmasche aufklärt und auf YouTube zu sehen ist.

 

„Niemand überblickt das in seiner Vollständigkeit.“

 

An allen Ecken begegnet uns der Wunsch nach Präzision. Dabei geht es nicht um eine 1-zu-1- beziehungsweise eine 1-zu-87-Nachbildung der Wirklichkeit, sondern um Eindrücke und Erinnerungen, um ein authentisches Erlebnis. Welche von den fünf zur Verfügung stehenden ist die beste Lavendelfarbe in der Provence? Sollen wir hier auch mit Geruch arbeiten? Warum dann nicht auch in Monaco, wo sich verbranntes Gummi anbieten würde? Es steht auch ein Eimer Farbe herum, der die Aufschrift „Südfrankreich“ trägt. Welcher Anstrich dann auch immer am Ende das Rennen macht, was überall zu spüren ist, ist die Begeisterung der Mitarbeiter über die kreative Freiheit, die sie hier genießen. Bei zukünftigen Erweiterungen kann sich jeder von Anfang an einbringen. Dann beginnt die minutiöse Planung, die in den Millimeterbereich führen kann. „Aber irgendwann“, so erklärt uns Conni, „kommt die Frage, was wir für Szenen setzen wollen. Je nachdem, wer da gerade die Figürchen in der Hand hat, entstehen diese oder jene Szenen.“ Und das hat eine Konsequenz, die das Miniatur Wunderland fast wie einen lebendigen Organismus erscheinen lässt, der auch für das Team immer wieder eine Überraschung bereithält: „Niemand überblickt das in seiner Vollständigkeit.“

Weitere Infos:

aktuelle Öffnungszeiten und Ticketbuchung unter:

www.miniatur-wunderland.de

Kontakt:

Miniatur Wunderland
Kehrwieder 2
20457 Hamburg
T. 040.300 68 00

Auch das Miniatur Wunderland ist von den pandemiebedingten Einschränkungen betroffen. Diese Reportage ist bereits im Herbst entstanden. Informieren Sie sich bitte vor Ihrem Besuch über aktuelle Öffnungszeiten und Möglichkeiten der Ticketbuchung.